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Ich sehe was, was du nicht siehst …

Wenn ihr eine Szenerie beschreibt, habt ihr ein Bild vor Augen, welches ihr mit den eigenen Worten zusammenfasst. Der Leser erhält Details, mit denen er sich eine eigene Welt schafft. Es gibt Diskussionen darüber, wie viel man dem Leser vorgibt. Soll er ein komplettes Bild erhalten oder sich mit den gegebenen Einzelheiten eine eigene Welt bauen? In diesem Beitrag geht es jedoch darum, welche Details man dem Leser gibt.

Dafür möchte ich einen Test machen. Öffnet das Bild, schaut es euch für drei Sekunden an und klappt es wieder zu.
Bild

Notiert in Stichpunkten, was euch aufgefallen ist. In der Regel werden das die Dinge sein, auf die ihr im Alltag achtet, die euch persönlich wichtig sind.

Wem ist aufgefallen, dass die Mädels allesamt dunkel- und langhaarig sind? Wer von euch weiß noch, welche Schuhe sie getragen haben? War die Kleidung kariert oder gestreift? Ihr findet Klamotten langweilig und interessiert euch für zwischenmenschliche Beziehungen? Was spiegeln die Gesichtsausdrücke und die Körperhaltung wider? Das Mädchen links auf dem Bild findet es gar nicht so toll, dass die anderen beiden Händchen halten. Hinten läuft die Anführerin der Clique. Selbstgefällig blickt sie auf ihre Freundinnen.

Vielleicht ist euch das völlig egal und euch ist der Spätsommertag im Gedächtnis geblieben. Vielleicht habt ihr euch überlegt, um welche Berge im Hintergrund es sich handelt, was mit dieser verlassenen Tankstelle passiert ist. Das Dach hat tiefe Risse und droht bald einzubrechen. Der Asphalt ist von Wind und Wetter fleckig und aufgesprungen. Reifenspuren eines Lastkraftwagens. Und die Anführerin mit dem dunklen Lippenstift lacht.

Nun seht euch das Bild noch einmal an und schreibt eine kurze Szene einer beliebigen Geschichte, die euch gerade in den Sinn kommt. Ein Absatz reicht vollkommen. Vergleicht eure Stichpunkte mit der Szene. Unterscheiden sich die Stichpunkte (eure persönliche Wahrnehmung) von der Szene (für den Leser geschrieben)? Welche der Stichpunkte habt ihr bewusst weggelassen, welche Informationen habt ihr im Nachhinein hinzugefügt?

Dadurch, dass heutzutage meist der personalen Erzähler benutzt wird – sowohl bei der ersten als auch bei der dritten Person –, wird der Erzähltext von der Wahrnehmung der Figur gefiltert. Was nimmt eure Figur wahr, wenn sie ein architektonisches Meisterwerk sieht? Geometrische Formen, Farben oder die Kunstrichtung? Die Umgebung, in die das Bauwerk eingebettet ist, samt Wetter und Tageszeit? Die lachenden Studenten auf den Stufen vor der Loggia, der rothaarige Junge, der die Puppe seiner großen Schwester im Brunnen ertränkt?

Auf welche Details achtet eure Perspektivfigur? Welche Worte würde sie wählen? Wie nimmt sie ihre Umwelt wahr? Und wenn ihr aus verschiedenen Perspektiven schreibt: Ändern sich die Wahrnehmung und die Ausdrucksweise oder bleibt sie bei allen Figuren gleich? Ist es eure Wahrnehmung, die Wahrnehmung des Autors, oder die der Figuren?

Seid euch den Gedanken und Gefühlen eurer Figuren bewusst. Es gibt nämlich keine neutralen Erzählungen. (Ja, auch Berichte sind nicht neutral. Schon die Auswahl der Informationen ist eine subjektive Selektion.) Wenn jemand etwas erzählt, schwingen seine Emotionen mit. Nutzt das aus, denn genau solche Beschreibungen machen den Text individuell und lebhaft. Gibt es Details, auf die ihr sonst noch nie geachtet habt und zukünftig in eure Texte einbringen wollt?

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