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Die Pflicht um Weihnachten

Dieser Artikel wurde für den Adventskalender 2019 im Wortkompass verfasst.

Heiligabend ist das Ding überhaupt. Und alles, was darauf hinausläuft, muss gut vorbereitet sein. Muss.

Ich tu mein Bestes, um so wenig wie möglich mit »Weihnachten« in Berührung zu kommen, und im Laufe meiner Lebensjahre habe ich die Taktik der Ignoranz perfektioniert. Im Supermarkt gehe ich mit Tunnelblick durch die Gänge und greife zielsicher nach Bio-Hafermilch und regionalem Gemüse, anstatt mich darüber aufzuregen, dass Lebkuchenherzen und Spekulatius schon im September ausliegen, obwohl noch über 30 °C sind. Ich fühle mich auch nicht mehr unter Druck gesetzt, bei der Aufrüstungspolitik in der Nachbarschaft mitzumachen – die fetten Kränze an die Eingangstüren genagelt, Seiffener Schwibbögen für alle gut sichtbar auf dem Fensterbrett. Ich bin erwachsen, ich muss da nicht mitmachen!

Denkste.

  1. Dezember, Vormittag.

Ich öffne den Briefkasten und mir quillt die Weihnachtspost entgegen. Zumindest keine Rechnungen (mittlerweile kommen die online) und keine Drohbriefe (noch kommen die online). Ich fange an zu sortieren. Fröhliche Kund*innen wünschen mir eine frohe Zeit, Geschäftspartner*innen erinnern mich daran, wie gut die Zusammenarbeit doch sei, und erinnern mich gleichzeitig daran, dass es in diesem christlichen Lande Konvention ist, sich in der Weihnachtszeit was Gutes zu wünschen. Und das nicht nur als Akt des Kundenbindungsdingens.

Ich habe euch in allem gezeigt, dass man so arbeiten und sich der Schwachen annehmen muss im Gedenken an das Wort des Herrn Jesus, der selbst gesagt hat: Geben ist seliger als nehmen.Apostelgeschichte 20,35

Leute denken an mich. Sie zeigen, wie gerne sie geben. Es freut mich ehrlich, dass sie an mich denken, aber ich freue mich auch genauso über eine WhatApp-Nachricht – auch wenn da jetzt unten from(m) Facebook aufploppt –, aber dieser Zwang zu geben, erzeugt leichten Druck. Gib’s den Autor*innen! Gib’s den Verlagsleuten! Gib’s den Nachbaren! Gib’s ihnen allen! Ja! Und vergiss die Menschen im Wortkompass nicht! Adventskalender! Weihnachtskugeln! Likes! Weil »wir« Ankunft des Herren würdigen … Wir, Gründer*innen des Wortkompasses, weltatlas und ich, die eine engere Bindung zu חנוכה (nein, nicht die Haselnussschnitte) und 春節 (nein, nicht der Cocktail mit Club Mate und Rum) haben sollten/könnten, wenn wir im christlichen Deutschland leben würden.

Geh doch zurück, wo woher du kommst!

Ja, wohin denn? Ich weiß, dass ich als Ur-Berlinerin ich zur Minderheit gehöre und von Menschen aus Hamburg, Dresden, Leipzip … jaja, und ausm Schwabenland verdrängt werde. Aber ich geh nicht weg hier. Trotz des ganzen Weihnachtskrams.

Irgs. Das hätte ich wohl nicht sagen dürfen. Nicht das mit dem weggehen, sondern Weihnachtskram. Ist wohl eine Diffamierung von etwas, was anderen Leuten wichtig ist. So wichtig, dass sie sich auf Twitter aufregen, wenn sie anderen »Grüß Gott« oder »Frohe Weihnachten« oder »Gesundheit« zurufen, aber keine Antwort bekommen. Deutschland ist ein freundliches Land. Da kann man doch schon was erwarten oder? Ich mein, wenn ich durch die Straßen laufe und meine Umgebung mit »Allahu akbar« grüße, kommt auch sofort eine Reaktion. Geben und Nehmen, Leute.

Fazit: Ich bereite mich vor. Ich lerne diese Weihnachtssprüche, die man sich – je mehr, desto näher die Frist naht – gegenseitig an den Kopf wirft. Ich schreibe Weihnachtspost, damit andere Leute nicht denken, dass ich sie vergessen habe oder undankbar bin. Ich esse Dominosteine, weil »Frist« und »Frust« nur einen Buchstaben trennen. Lasse die Weihnachtsgeschenke in meinen Amazon Locker schicken. Antworte auf »Wie geht’s dir?« mit »Muss, muss«; auf »Wie feiert ihr denn bei euch?« mit »Wir legen 8 Glückkekse in einen Kreis, und sobald der Gong ertönt, hauen wir mit der Faust drauf« und auf die ernste Frage »Hast du schon alle Weihnachtsgeschenke?« mit einem hysterischen Lachen.

Ich nehme mir vor, nächstes Jahr rechtzeitig anzukündigen, dass ich Self-Care anstatt Weihnachten feiere. Ist zwar noch keine Religion, aber es gibt schon einige Leute, die über Achtsamkeit und psychische Gesundheit predigen.

Bis dahin,
frohe Weihnachten und Muss, Muss!
Unterschrift von Victoria

 

 

2 Comments

  1. Anonymous 13. März 2020

    Liebe Victoria,

    irgendwie verstehe ich deine Einstellung ja, aber irgendwie finde ich den Artikel im Kontext deiner Webseite schwierig. Während du nur den Hauch einer Diskriminierung in Texten findest, wo der Autor offensichtlich versuchte, sich gegen Diskriminierung einzusetzen, wirst du hier nun selbst offen feindselig gegen eine Kultur. Auch wenn diese Kultur “bevorzugt, weiß und heterosexuell” ist, ist es immer noch eine Kultur – und im Umgang mit einer marginalisierten Kultur oder einer Kultur der Massen sollte m.E. kein Unterschied gemacht werden.

    Überlege mal, ob du den Text ebenso frei gepostet hättest, wenn es nicht um Weihnachten, sondern um Ramadan ginge. Oder ob du dich angegriffen fühlen würdest, wenn jemand so über ein Fest sprechen würde, dass dir und deiner Kultur um Herzen liegt.

    • Victoria Linnea 16. März 2020

      1. Schade, dass du den Druck in der Weihnachtszeit als Diskriminierung auffasst.
      2. Schade, dass du die Kritik an die Annahme, dass alle christlich feiern und dass ein ausländisch markierter Mensch weder christlich noch #vonhier ist, als Diskriminierung auffasst.

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