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Was ist dieses »divers«?

Ich bin auf ein Tweet gestoßen, in dem von diverser und/oder queerer Literatur gesprochen wurde. Auch wenn ich es gutheiße, dass auf Diversität geachtet wird, hatte ich Probleme mit dieser Ausdrucksweise. Dank eures Inputs habe meine Gedanken in diesem Beitrag niedergeschrieben.

Das Beitragsbild [einheitlich in dunkelblauen Anzügen und glänzenden schwarzen Derbys gekleidete Personen, die die Hosenbeine heben und die bunt geringelten Socken zeigen] spiegelt mein Gefühl und die Problemamtik zu »divers« wider. Was ich genau darüber denke, erläutere ich im Laufe dieses Beitrags. (Ha! Cliffhanger!)

 

Divers? Was ich damit meint? So … äh, diverse Sachen halt

Das englische Wort »diverse« wird als Adjektiv zu »diversity« benutzt, aber in der deutschen Sprache ist »divers« als Adjektiv zu »Diversität« ist in der deutschen Sprache (noch) nicht etabliert. Deshalb gibt es Unsicherheiten bei der Definition.

Im Deutschen bedeutet »divers«: verschieden; einige, mehrere, vielerlei. Darüber hinaus wird Begriff benutzt, wenn nicht in die Kategorie männlich oder weiblich eingeordnet werden soll – im Sinne von m/w/d.

Deshalb finden viele von euch »diverse Literatur« als wörtliche Übersetzung des englischen Begriffs »diverse literature«, wobei öfter von »diverse books« oder »diversity in literature« gesprochen wird, missverständlich. Ihr sagtet, klinge wie: »Ich habe verschiedene/mehrere Bücher gekauft. Ich lese unterschiedliche Romane.« Und noch mehr, der Begriff habe auch eine negative Konnotation und erinnere an die Rubrik »Vermischtes« in Lokalblättern – alles was so übrig sei und nirgends richtig dazu gehöre.

Ja. So fühlt es sich wohl als marginalisierte Person an.

»Diverse Literatur« ist das ein Genre?

Es gibt die Gefahr, dass »Diversität« als Genre gesehen wird, ähnlich wie »Frauenliteratur«. Man spaltet die marginalisierten Gruppen – diese schwammige diverse Zeug – von der Literatur von und für weiße, männliche, heterosexuelle, cisgeschlechtliche, abled Autoren ab. Letztere bleiben die Norm. (Oder habt ihr schon mal von Männerliteratur oder Weißliteratur gehört?)

Diversität wird zu einem Genre, wo die anderen vorkommen – also, alles was so übrig ist und nirgends richtig dazu gehört. Wenn man zusätzlich anstatt von »Diversität in Literatur«, von »diverser Literatur« spricht, verstärkt es dieses Gefühl.

Um zu verdeutlichen, wie schrecklich das ist, zeige ich euch mal eine Definition von »Frauenliteratur«. Das ist – so sagt Wikipedia – »ein Genre sowohl belletristischer als auch essayistischer Literatur, die im weitesten Sinne als Literatur von Frauen, über Frauen oder für Frauen beschrieben werden kann«.

Klingt seltsam, ist auch seltsam.

Probieren wir diese Definition mit »divers«:

Diverse Literatur bezeichnet ein Genre sowohl belletristischer als auch essayistischer Literatur, die im weitesten Sinne als Literatur von diversen Menschen, über diversen Menschen oder für diversen Menschen beschrieben werden kann.

Das bedeutet, dass alle Ethien, die nicht rein weiß sind (egal wie viele Anteile weiß man in sich hat, besitzt man einen Tropfen nicht-weiß, ist man nicht mehr reinblütig, sondern ein Muggel), alle Geschlechter, die nicht cis-, dya-geschlechtlich sind, alle sexuellen Lebensweisen, die nicht zur Heterosexualität gehören, alle Religionen, die nicht christlich sind, alle Menschen, deren Körper nicht normschön sind, … in eine Kategorie gesteckt werden, während die dominate Gruppe, als normal gilt und das Zeug zu Weltliteratur hat.

Apropos Weltliteratur. Was ist das überhaupt?

Diversitätsliteratur vs. Weltliteratur

Was sagt denn meine Lieblingsseite zu »Weltliteratur«?

Zur Weltliteratur werden literarische Werke gezählt, die über nationale und regionale Grenzen hinweg große Verbreitung gefunden haben und die gleichzeitig als für die Weltbevölkerung bedeutsam erachtet werden. Der Ansatz ist somit vergleichbar mit den Überlegungen, die zu einem Begriff wie Weltkulturerbe geführt haben. Der Begriff der „Weltliteratur“ wurde erstmals von Christoph Martin Wieland verwendet, der darunter jedoch Literatur für den homme du monde, den „Weltmann“ verstand. Goethe prägte den Begriff ab 1827 in seiner Zeitschrift Über Kunst und Altertum um und gab ihm dabei eine Bedeutung, die auch heute noch einen wesentlichen Bestandteil des Begriffs darstellt. Er verstand darunter die Literatur der Franzosen, Italiener, Deutschen, Engländer und Schotten, die aus einem übernationalen, kosmopolitischen Geist heraus geschaffen wurde.Wikipedia

Okay, verstehe: Zur Weltliteratur werden literarische Werke gezählt, die über nationale und regionale Grenzen hinweg große Verbreitung gefunden haben und die gleichzeitig als für die Weltbevölkerung bedeutsam erachtet werden.

Nun, lasst uns mal gemeinsam überlegen, welche Menschen entscheiden,

  • welche Manuskripte veröffentlicht werden,
  • welchen Platz sie in der Progammvorschau haben (wenn überhaupt),
  • wie viel Geld ins Marketing fließt,
  • wie sehr das Buch besprochen wird,
  • wo das Buch besprochen wird,
  • ob das Buch nominiert werden soll?

Höchstwahrscheinlich die Hommes du monde, weiße Franzosen, Italiener, Deutschen, Engländer und Schotten – Frauen und nonbinäre Menschen sind nicht mitgemeint. Sie definieren in ihrer Literatur, was komopolitisch ist, und bestimmen, was bei den Lesern – Frauen und nonbinäre Menschen sind nicht mitgemeint – ankommt.  Hmm … smells like … neocolonialism.

Versteht ihr jetzt, wieso ich dieses Titelbild gewählt habe?

Anzugträger mit bunten Ringelsocken
Einheitlich in dunkelblauen Anzügen und glänzenden schwarzen Derbys gekleidete Personen (wahrscheinlich cis Männer) heben die Hosenbeine und zeigen ihre bunt geringelten Socken.

 

Diversität beinhaltet nicht nur kulturelle Vielfalt

Die Bildersuche spiegelt wider, was anscheinend unter »Diversität« verstanden wird. Sucht man bei unsplash nach diversity, bekommt man ein bisschen Regenbogen, aber vor allem Schwarze Kinder. Es kommt mir so vor, als würde man unter »divers« ethnische Diversität verstehen, oft geht es um Schwarze Menschen oder Menschen in exotischer traditioneller Tracht.

In dem oben genannten Tweet stand »divers« neben »queer«, als würde sich beides ausschließen – vielleicht war es nur ein Versehen, und dennoch zeigt es die Konnotation des Wortes »divers«. Dabei beinhaltet Diversität nicht nur die Ethnie oder die Sexualität, es geht auch um Gender, Religion, Krankheitsbilder, Behinderungen, Alter, Körperformen, …

Aber mehr als Hautfarbe (dieser Begriff verwende ich hier ironisch, weil Ethnie mehr als Hautfarbe ist) oder die Sexualität? Nein, danke, das geht zu weit.

Ich muss zugeben, dass in meinen Augen das Beitragsbild sehr schön die Buchbranche widerspigelt: Autor*innen, die durch ihre Privilegien keine großen Problem haben, ihre Füße in die Literaturwelt zu setzen. Es wird über und nicht mit marginalisierten Menschen geredet. Darüber geredet, inwiefern sie in Bücher sein sollen. Und dann wird damit angegeben, dass man bunt geringelte Socken trägt. (Aber gepunktete Socken nicht. Das geht zu weit.)

Wie weit wollen wir mit dieser Diversität gehen?

Bis es die Realität widerspiegelt, ist mein Anspruch.

Ich möchte solche Bücher als »normale Bücher« bezeichnen, nicht als »diverse Bücher«.

Nein, ihr müsst nicht ALLE einbeziehen, aber die Kritik gilt ja auch Büchern, die KEINE marginalisierten Personen einbezieht, sondern sie ausschließt oder als Token benutzt. Mir gefallen jedoch Bücher, in denen marginalisierte Personen ganz normal existieren dürfen, ohne dass ihr Leid thematisiert wird. Ich möchte solche Bücher als »normale Bücher« bezeichnen, nicht als »diverse Bücher«.

Dadurch dass Diversität aber noch nicht von allen angenommen wird, ist es notwendig, Diversität zu kennzeichnen. Aber auch als Kategorie, um bestimmte Geschichten zu finden, ist es praktisch.

Bei Goodreads zum Beispiel findet man unter dem Tag »Diversity« verschiedene Unterkategorien, was das Finden von bestimmten Büchern einfacher macht. Von »Asexuels in Fiction« über »Religious Diversity in Fantasy« bis »Mixed-raced YA«. Aber hier handelt es sich um den Zusatz »Diversity«, einem Suchbegriff, der zur Zuordnung dient, nicht um »diverse Literatur« als Gattungsname.

Der englische Begriff »diverse literature« oder »diverse books« oder »diversity in books« beschreibt eine andere Kategorie von Büchern.

Was »diverse books« sind:

Im englischen Sprachraum sind mit »diverse books« auch meist Kinder- oder Jugendbücher gemeint, die den Fokus auf Diversität haben. Sie haben den Anspruch, dass die Leser*innen sich selbst und ihre Lebenswelt in den Büchern wiedererkennen können.

By selecting children’s books that are representative of diversity, pathways are open for children to discuss and consider important issues such as diverse perspectives, intercultural awareness, and breaking down stereotypes and misconceptions. In turn, these types of conversations with children develop general capabilities such as critical and creative thinking, personal and social capabilities, and ethical and intercultural understandings. The selection of culturally diverse literature however, can be problematic. Research shows that many authors of children’s books are from dominant cultures, writing about non-dominant cultures. These books can contain characters or information lacking authenticity and often reflect stereotyping and misunderstandings in the portrayal of non-dominant cultures (Bishop, 1997; David, 2001; Roberts, Dean, & Holland, 2005). Other challenges emerge when educators fail to understand what authentic, culturally diverse literature is, resulting in educators inadvertently selecting texts that hinder rather that promote intercultural awareness and understandings (Johnston, Bainbridge, & Shariff, 2007; Willis & Parker, 2009).Helen Adam, Laurie Harper

In diesem australischen Abstract findet man eine Liste, welche Anforderungen an »diverse literature« gestellt wird. Man findet Fragen wie: Inwiefern ist der*die Autor*in dafür qualifiziert, die Geschichte zu schreiben? Wurde recherchiert oder hat die Person in der Gruppe gelebt, die sie in dem Buch präsentiert? Sind Fakten und historische Details akkurat? Werden die Kinder mit verschiedenen Sichtweisen und Werten konfrontiert? Können die Werte selbst entdeckt werden, ohne moralischen Fingerzeig? Inwiefern fördert die Geschichte das das Verständnis für die Diversität unserer Gesellschaft?

»Diverse Books« behandeln das Thema Diversität.

»Bücher mit Diversität« sind Bücher aus allen Genres, die die Diversität unserer Gesellschaft widerspiegeln. Wie die marginalisierten Personen dargestellt werden – authentisch oder klischeehaft, respektvoll oder diskriminieren, als vollwertige Romanfigure oder als Token –, steht auf einem anderen Blatt. »Diverse Books« sind natürlich gleichzeitig Bücher mit Diversität. Andersherum muss es nicht der Fall sein.

Um Bücher mit Diversität nicht mit Diversitätsbüchern (diverse books) zu verwechseln, kann einfach das konkrete Genre genannt werden. Anstatt »Frauenliteratur« zum Beispiel Entwicklungsroman (mit weiblicher Hauptfigur). Anstatt »diverse Literatur« zum Beispiel Chinesische Scifi, Afrofuturismus oder Mixed-race New Adult.

 


Helen Adam, Laurie Harper: Assessing and selecting culturally diverse literature for the classroom/ (Letzter Zugriff: 22. April 2020)

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