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Diversität um jeden Preis?

Content Warning: Rassismus, Mom-Shaming, Fat-Shaming, Queermisia, Suizid, Tod

Ich bin auf den Titel »Someone New« von Laura Kneidl aufmerksam geworden, weil es hieß, dass er alle möglichen Randgruppen einbringe. Natürlich habe ich sofort meine Ohren gespitzt; denn als eine Person, die sich mehr Diversität in Romanen (und der Literaturwelt) wünscht, will ich mitverfolgen, wie Figuren aus marginalisierten Gruppen dargestellt werden.

Ich rechne es der Autorin hoch an, dass sie sich darum bemüht, Diversität zu schaffen, obwohl sie wahrscheinlich nicht davon betroffen ist, als Angehörige einer marginalisierten Gruppe in Romanen unterrepräsentiert zu sein; und dass sie es überhaupt »wagt«, über bestimmte Menschen und Themen zu schreiben.

Es ist absolut nicht einfach als Außenstehende, den richtigen Ton zu finden. Selbst wenn man Betroffene oder Sensitivity Reader zurate gezogen hat (man merkt, dass die Autorin es getan hat), kann es bei der Umsetzung hapern. Und das tut es bei »Someone New« leider.

Welche Auswirkungen hat dieser Roman?

  • Leser*innen, die sich noch nicht so viel mit LGBTQIA+ oder Rassismus beschäftigt haben, können sich durch die Perspektivfigur, also als Außenstehende ohne Vorkenntnisse, an diese Themen herantasten.
  • Leser*innen – meist solche, die skeptisch gegenüber Diversität sind – empfinden die vielen marginalisierten Gruppen zu konstruiert und überflüssig. Diversität wirkt abschreckend.
  • Für Leser*innen, die marginalisierten Gruppen angehören, oder Menschen, die für diese Thema sensibilisiert sind, ist es schmerzhaft zu lesen, wie Marginalisierte in Klischees gesteckt werden und für die Charaktereigenschaften der Protagonistin und als Erzähltechnik (Anglizismus: Plot Device) missbraucht werden. Somit werden Stereotype bestärkt.
  • Es wirkt so, als ob Queersein oder das Leben als BI_PoC (black, indigenous, and people of color) ausschließlich Leid bedeute, und dass Sexualität, Identität oder Hautfarben, die nicht der Norm entsprechen, für die jeweiligen Personen und deren Mitmenschen behindernd seien.

Es ist wichtig sich in Romanen repräsentiert zu sehen, und ich bin dankbar dafür, dass privilegierte Autor*innen sich um Diversität bemühen, obwohl es ihnen egal sein könnte. Aber dabei Mikroaggressionen ausgesetzt zu sein und zu sehen, dass man als andersartige Person ein schreckliches Schicksal erfahren »muss«, ist nicht nur schmerzhaft, sondern in manchen Fällen auch triggernd.

Mikroaggressionen
Mikroaggressionen sind kleine Äußerungen, die wohlwollend und unvoreingenommen gemeint sind, aber andere Personen hinsichtlich der Gruppenzugehörigkeit abwerten oder ausschließen.

Man kann Mikroaggressionen folgend einteilen:

  • Mikroangriffe: kleine diskriminierende Äußerungen
  • Mikrobeleidigungen: meist unbewusst herabsetzende oder vorurteilshafte Äußerungen, wie zum Beispiel jemanden für Sprachkenntnisse loben, weil man davon ausgeht, er sei ein Ausländer bzw. Migranten könnten sich nie so gut eine Zweitsprache aneignen
  • Mikroentwertungen: Ausdrucksformen, die Gedanken, Gefühle oder Wahrnehmungen der Betroffenen ignorieren, ausschließen oder herabsetzen

Im folgenden Abschnitt werde ich den Roman aus der Sicht einer Lektorin und Sensitivity Reader analysieren. Ich versuche zu berücksichtigen, dass die Autorin sicherlich sehr darum bemüht war, respektvoll mit sensiblen Themen umzugehen, auch wenn mich manche Textstellen persönlich sehr getroffen haben.

Begriffe aus der Erzähltechnik werden violett geschrieben.

Es werden sowohl Spoiler als auch Kleinzitate als Beleg meiner Erläuterungen (§51 UrhG) vorkommen.

 


Ein Text voller unsichtbarer Mikroaggressionen

Keine Romanfigur ist perfekt. Kein*e Autor*in ist perfekt. Mikroaggressionen werden überall produziert. Was ist daran schlimm?

Romanfiguren sollen gar nicht perfekt sein. Macken machen sie menschlicher, und durch Fehler, die Konflikte in den Plot bringen, hat sie die Möglichkeit, sich charakterlich weiterzuentwickeln.

Bei Genres wie Young Adult sind Protagonisten aber eine Identifikationsfigur. Wir sehen durch deren Augen und lernen mit ihnen aus den Fehlern. Deren Moralempfinden beeinflusst uns, und so ordnen wir Handlungen, Gedanken, Aussagen, anderen Romanfiguren, die die Perspektivfigur positiv wahrnimmt, ebenso positiv ein. Für diesen Roman bedeutet es, dass Herabwürdigungen gegenüber anderen Figuren weniger stark wahrgenommen oder entschuldigt werden, weil die Protagonistin Micah sie nicht als Fehler wahrnimmt und sie auch nicht im Nachhinein reflektiert.

Auf manche Leser*innen wirkt Micah übergriffig und herablassend, aber auf andere (meist jüngere oder solche, die sich nicht so gut in den jeweiligen Themen auskennen), können diese Eigenschaften als hilfsbereit oder aufopfernd wahrgenommen werden, weil das herablassende Verhalten durch den guten Willen der Protagonistin unsichtbar gemacht wird.

Beispiel 1: Mikroaggression

Als Micah ihre Nachbarn das erste Mal sieht, nimmt sie eine kleine weiße Frau und einen großen schwarzen Mann wahr (ich muss hierbei erwähnen, dass ich es sehr gut finde, dass die Figuren ungeachtet ihrer Ethnie gleichermaßen ausführlich beschrieben werden). Doch dann schließt Micah ihren Gedankengang folgendermaßen:

Dabei waren es nicht die Unterschiede, die mich sprachlos machten, sondern ihre Gemeinsamkeit. (S. 38)

Die Protagonistin meint es sicherlich nett, aber sie beschreibt die offensichtlichen Unterschiede als Erstes und hebt sie hervor, während sie behauptet, dass es sie nicht interessiere. Ihre Aussage ist ausgrenzend, auch wenn die Worte scheinbar genau das Gegenteil bedeuten. Sie gehört zur gleichen Kategorie wie: »Für mich gibt es keine Hautfarben. Alle Menschen sind gleich.«

Es ist eine Utopie, dass Hautfarben irrelevant sind – so sehr ich es mir auch wünsche. Da die Realität aber nicht so ist, werden mit solchen nett gemeinten Sprüchen die Identität und die Erfahrungen von People of Color negiert; und das ist eine Form von Mikroaggressionen.

Micah richtet die Aufmerksamkeit auf die Andersartigkeit, indem sie gewollt wegguckt.

Beispiel 2: Mikroaggression

In ihrer Schwangerschaft hatte sie dreißig Pfund zugenommen, und inzwischen waren zehn weitere hinzugekommen. Was nicht schlimm war, vor allem wenn man bedachte, dass sie nicht nur ein Kleinkind erzog, sondern gleichzeitig ihren Schulabschluss nachholte. Doch Lilly machte sich wegen ihres Gewichts ständige Vorwürfe. (S. 48)

Wahrscheinlich soll ausgedrückt werden, dass der Protagonistin die Äußerlichkeiten ihrer Freundin egal sind, aber sie wertet über den Körper einer anderen Person, indem sie die Pfunde auszählt und bestimmt, wie sich diese mit der Gewichtszunahme fühlen sollte. Das Muttersein wird als Entschuldigung für die Übergewichtigkeit genommen. Es ist ja nett, dass Micah es Müttern erlaubt, dick zu werden, aber muss man irgendeine Körperform entschuldigen? (Im Übrigen sind Mütter – obwohl sie Kinder haben – immer noch Frauen und dürfen sich auch um ihr Äußeres kümmern.)

Die Nebenfigur Lilly bedient sich am Topos der dicken besten Freundin (englisch: fat best friend) und gehört als junge Mutter zu den Figuren, die am meisten bevormundet wird – das spiegelt übrigens gut unsere Gesellschaft wider. Ihre Funktion als dicke beste Freundin ist es, von Micah bestärkt zu werden bzw. damit sich Micah aufwerten kann.

»Im Moment ist es hart, aber wenn du später zurückblickst, wirst du stolz auf das sein, was du geleistet hast.« (S. 50)

»… dass du bereits vor drei Jahren einen großen Schritt gemacht hast, und den hast du uns allen voraus.« (S. 88)

»Dein Gefühl trügt dich«, versichere ich ihr mit so viel Überzeugungskraft, wie ich aufbringen konnte. »Du hast heute einen schlechten Tag und vermisste ihn. Das ist alles.« (Versucht sie gerade Gaslighting?)

Es wird aber nicht darauf eingegangen, dass sich Lilly als alleinerziehende Teenie-Mutter Sorgen um die Zukunft macht und es bereut, das Kind so früh bekommen zu haben. Im Gegenteil: Micah sieht nur dorthin, wo sie bestätigen kann und sich bestätigt fühlt. Sie spielt die Ängste ihrer Mitmenschen herunter. Somit steht die Protagonistin und ihr vermeintlich guter Willen im Fokus.

Beispiel 3: Schuldzuweisung

Dass sich die Protagonistin durch andere Personen aufwertet, ist der Aufhänger dieses Plots. Ihr erstes Ziel ist es, die Schuld ihrer Mutter zu sühnen – getarnt als eigenes Schuldgefühl. Aber dem Leser ist sofort klar: Es ist nicht ihre Schuld, sondern die der intoleranten Mutter. Die aufopferungsvolle Micah will sich für das schreckliche Handeln ihrer Mutter entschuldigen … natürlich mit Seitenhieb auf Julian, der »abweisend zu ihr [Micah] ist und ihr nicht mal die Gelegenheit gibt, sich zu entschuldigen« (Klappentext).

Konkret sieht es so aus, dass sie ihn stalkt. (Stalking ist nicht okay! Niemals. Egal wie romantisierend es in Romanen dargestellt wird.) Sie wartet hinter der Wohnungstür – mit dem Auge am Spion –, um ihren Nachbarn Julian abzupassen. Der an ihr vorbeiläuft.

Was sollte das? Nachdem ich über eine halbe Stunde auf ihn gewartet hatte, ohne zu wissen, ob es überhaupt was brachte. Nach all den Schuldgefühlen, die ich in den letzten zwei Monaten seinetwegen empfunden hatte, sollte das alles gewesen sein? (S. 52f)

Und hier wird deutlich, dass der Protagonistin nicht um ihre Mitmenschen geht, sondern um ihr eigenes Bedürfnis. Julian will weder ihre Entschuldigung noch ihre Hilfe, doch das akzeptiert sie nicht. Sie drängt ihm ihre Hilfe auf. Als er sie tatsächlich mal benötigt, freut sie sich übermäßig. Daran erkennt man, dass sie anderen nicht hilft, weil sie an deren Wohl denkt, sondern weil sie es für ihr Ego und für ihre Sühne braucht.

Aber ich tat es nicht für mich, sondern für Adrian und unsere Familie. (S. 68)
Trotz übergriffigem Verhalten und Stalking wirkt sie nicht wie eine Täterin, weil die schwarz-weiß gezeichneten Eltern die Antagonisten sind und Micah in der Opferrolle bleiben kann, wodurch der Leser in die Position gedrängt wird, sie zu beschützen. (Nein, liebe Micah, du bist nicht schuld, du hast alles getan, was du konntest! Deine Eltern sind böse, nicht du!)

Sich als Opfer darzustellen, ist eine Sache. Aber wie oben schon angeschnitten, schiebt Micah den Menschen, die nicht nach ihrer Erwartung handeln, die Schuld zu. Besonders ihren Bruder Adrian trifft es hart; er ist nicht nur schuld daran, weil er sich nicht erwartungsgemäß verhält, er trägt die Verantwortung für ihre schlechte Situation.

Er [Adrian] hat sich wochenlang auf keine meiner Nachrichten gemeldet, obwohl ihm klar gewesen sein muss, dass ich mir Sorgen um ihn mache. Ja, unsere Eltern haben sich ihm gegenüber absolut scheiße verhalten, aber meine Beziehung zu ihnen ist zurzeit auch alles andere als rosig. Seinetwegen. (S. 372)

Er wollte keinen Kontakt zu unseren Eltern. War damit alles, was ich in den letzten Monaten auf mich genommen hatte, umsonst gewesen? Jeder Kompromiss? Jede Diskussion? Jeder Streit? Ich hatte immer gewusst, dass es schwer werden würde, dass unsere Eltern engstirnig waren, aber mir war kein einziges Mal der Gedanke gekommen, dass Adrian derjenige sein könnte, der alle Brücken zum Einsturz brachte. (S. 422)

Mary Sue per se ist okay, White* Savior hingehen nicht

*White steht für white, cis und hetero

Micah ist eine unsympathische Protagonistin. Das ist in Ordnung. Keine Hauptfigur muss von allen Leser*innen auf gleiche Weise gemocht werden. Dass ich als Leserin eine Wut auf sie haben, bedeutet dass sie erzähltechnisch sauber ausgearbeitet ist. Sie ist kein Pappaufsteller, sondern ein Mensch mit Charakter. Sie hat Stärken und sie hat Macken. Aber keine für den Plot relevanten Schwächen. Die Schwächen einer Figur benötigt man, damit sie an ihre Grenzen stößt und dadurch gezwungen wird, sich zu entwickeln. Und wenn sich Micah entwickeln würde, wäre der Plot für mich akzeptierbar.

Die Handlungen und Aussagen der Protagonistin bleiben unreflektiert. Selbst an den wenigen Textstellen (das sind auf dem Bild die blauen Marker), in denen sie kurz innehält und sieht, dass sie übergriffig ist, schließt sie ihren Gedankengang damit, dass sie keine Fehler gemacht hat oder dass ihre Grenzüberschreitungen akzeptiert werden müssen, weil sie helfen möchte.

Es kam mir wie ein Eingriff in seine Privatsphäre vor, dass ich die Blicke all dieser Fremden auf ihn lenkte […] Aber was blieb mir anderes übrig? (S. 187)

Hör auf zu nerven.
Nein, ich würde nicht aufhören zu nerven. Er sollte jetzt nicht allein sein, sondern jemanden an seiner Seite haben, der für ihn da war. Und ich wollte dieser Jemand für ihn sein. (S. 254)

Hatte ich sie [ihre Eltern] wirklich als kleingeistige Spatzenhirne beschimpft? Ich war ziemlich gemein zu ihnen gewesen. […] Vielleicht war ich etwas zu schnell aus der Haut gefahren. Vielleicht … Nein. Ich hatte nichts falsch gemacht. (S. 449)

Ich hab mich durch fünfhundert Seiten mit Mikroaggressionen und triggernden Inhalten gekämpft, um eine Charakterentwicklung zu finden. Um der Protagonistin bzw. dem Roman eine Chance zu geben. Aber es wird nie behandelt, dass Micah ihre Mitmenschen abwertet, bevormundet oder stalkt, übergriffig ist oder sich als Opfer inszeniert. Sie besitzt keine dramaturgisch relevanten Fehler. Micah ist eine Mary Sue.

Mary Sues sind okay, vor allem bei epischen Gesichten mit einer*m klassischen Held*in oder in Romanen mit lockerflockig flauschigem und oberflächlichem Inhalt. Die Themen in »Someone New« sind aber nicht oberflächlich. Es geht um Diskriminierung, und die Protagonistin produziert Mikroaggressionen und tritt auf Angehörige marginalisierter Gruppen, um sich selbst zu bestärken.

Das erinnert an (Neo-)Kolonialismus, denn vom Gefühl her ähnelt es der Hilfe, die man dritten Ländern gibt. Man bestimmt, was für sie besser ist, stellt sich gleichzeitig über sie und grenzt sie aus, während man sie sich aneignen will.

Wollen sie denn diese Entwicklung? Wollen sie denn ein Teil sein? Wer bestimmt, was für sie das Richtige ist? Micah.

Wäre es irgendein Roman mit ausschließlich weißen cis hetero Menschen, wäre es ein erzähltechnisches Problem: Micah wäre nur eine Mary Sue und die Nebenfiguren bloß flach. Aber durch die Figurenkonstellation ist die Protagonistin ist nicht nur eine Mary Sue, sondern White Savior und die Personen aus marginalisierten Gruppen existieren nur, um dem Plot zu dienen (jepp, Anspielung auf Sklaverei).

Das ist hart.

Marginalisierte – Leid­tra­gen­de der Erzähltechnik

Auch wenn die Nebenfiguren ihre kleine Geschichte haben, bleiben sie oberflächlich und stereotyp. Sie sind keine vollwertigen Figuren. Sie sind keine Menschen, die einer marginalisierten Gruppe angehören. Sie sind Betroffenheit.

Schauen wir uns deren Steckbriefe an:

Aliza

Muslimisch sozialisierte Person, die wegen des Opferfestes die Uni geschwänzt hat. Die Religion spielt einzig bei der Figurenvorstellung eine Rolle und wird später nicht mehr erwähnt. Somit dient der Islam nicht einmal der Atmosphäre des Buches. Darüber hinaus wirkt der Begriff »muslimisch sozialisiert« (S. 55) deplatziert im Text und unterstreicht das Gefühl, als würde die Religion nur erwähnt, um den Roman mit Diversität aufzuwerten.

Cassie

Micahs Verbündete. Ebenfalls privilegiert (es wird zwar genannt, dass sie Diabetes hat, aber das wird von Micah als irrelevant eingeordnet). Liebt einen Schwarzen.

Lilly

Dicke beste Freundin. Opfer von Fat-shaming, aber auch Mütterdiskriminierung seitens Micah.

Ihre Charaktereigenschaften sind:

  1. Micahs Mikroaggressionen ausgesetzt zu sein,
  2. unglücklich zu sein, weil sie dick ist, zu jung ein Kind bekommen hat, das Kind allein erziehen muss, weil ihr Typ in einer anderen Stadt studiert – wobei ihr Micah dankenswerterweise die Sorgen ausredet,
  3. den Herabsetzungen ihrer Eltern zu ertragen zu sein und von Micah gerettet zu werden.

Ihr großes Glück ist der Heiratsantrag. Denn wir wissen ja, dass Menschen erst vollständig sind, wenn sie einen Partner haben, und Liebe alle Traumata heilt.

Auri

Der große schwarze Mann. Opfer der toxischen Maskulinität (S. 106).

Seine Charaktereigenschaften sind:

  1. mit der kleinen weißen Cassie zusammen süß auszusehen,
  2. von Micah verkuppelt zu werden,
  3. als Vertreter einer Person mit Rassismuserfahrung auf Interracial Sex reduziert zu werden.

Sein großes Glück erscheint im Winter 2019/20.

Auri dient als Erzähltechnik, damit sich die beiden weißen Frauen dem Thema Rassismus annähern können. Das geschieht aus einer sicheren Distanz; die beiden benutzen den Begriff »People/Person of Color«, den ich selbst nur aus den Diskursen kenne. In der Unterhaltung von Micah und Cassie wirkt es so, als wären PoC eine besondere Spezies. Hautfarbe wird dabei als etwas Skandalöses behandelt.

»Er ist so …« Cassie stockte und begann mit den Händen in der Luft herumzufuchteln […] »Und ich bin so …« Sie deutete auf sich. »… nicht.« […]
»Du willst nicht mit ihm zusammen sein, weil er schwarz ist?« […]
»Nein! […] Warst du schon mal mit einer Person of color zusammen?«
(S. 169)

Der Fokus liegt dennoch nicht auf den Erfahrungen von BI_PoC, sondern auf dem Leid von weißen Personen, die sich gegenseitig Rassismus erklären und einander trösten.

»Überall, wo wir zusammen hingehen, werden wir angegafft. Du kannst in den Blicken der Leute lesen, wie sie uns verurteilen. Beurteilen. […] Gelegentlich kann ich in ihren Gesichtern förmlich sehen, wie sie sich den Sex zwischen Auri und mir vorstellen, nur weil er groß und schwarz ist und ich klein und weiß bin. […] Ich will mir gar nicht vorstellen, wie es wäre, wenn wir Händchen halten oder uns küssen würden.«
»Wow. […] Das tut mir leid.«
Cassie schloss die Augen und holte tief Luft. »Schon in Ordnung.«
»Nein, das ist nicht in Ordnung.« Ich griff nach ihrer Hand und drückte sie sanft. Ihre Finger waren eiskalt.
(S. 170)

Und das war es auch schon mit der Gedenkminute. Das Thema ist abgehakt, kommt auch nie wieder vor. Als Nächstes scherzen die beiden, als wäre nie etwas gewesen.

Adrian

Der Schwule. Einfach nur Opfer. (Er wird auch konkret mit dem Attribut »schwul« in die Geschichte eingeführt.)

Seine Charaktereigenschaften sind:

  1. von den Eltern schlecht behandelt zu werden,
  2. als Erzähltechnik zu dienen, damit ihm Micah die Schuld zuschieben kann, weil sie sich für ihn aufgeopfert und er trotzdem alles kaputt gemacht hat,
  3. auf die Sexualität reduziert zu werden.

Sein Plot besteht aus Coming-out und Rausschmiss aus dem Elternhaus. Sein großes Glück ist, mit seinem Partner zusammen zu sein. Liebe macht vollständig. (In diesem Roman die Beziehungen mit queeren Personen oder People of Color betont süß und perfekt dargestellt; im Gegensatz zu der Beziehung von der weißen dicken Teenie-Mutter. Es wirkt so, als sollte unterstrichen werden, dass Micah besonders tolerant ist.)

Julian

Das Mysterium.

Seine Charaktereigenschaften sind:

  1. von den Eltern schlecht behandelt zu werden,
  2. als Erzähltechnik zu dienen, damit Micah seinem Geheimnis hinterherjagen und aufdecken kann
  3. auf die Sexualität reduziert zu werden. (Bei Transgender sollte es um die Identität gehen, aber im Fokus steht die Funktionstüchtigkeit von Julians Genital.)

Sein Plot besteht aus Coming-out und Rausschmiss aus dem Elternhaus. Sein großes Glück ist, von der Person, die sein Verhalten als »nicht normal« bezeichnet (weil er sich wegen seines Traumas zurückzieht), gerettet zu werden.

»Es gibt jemanden, der dich so liebt, wie du bist. Mich (S. 457)

Ich möchte darauf hinweisen, dass sie diesen Satz bringt, bevor er sich vor ihr als trans* Mann offenbart. Denn als er das tut, weiß sie nicht, was sie fühlt. Sie ist sich ihrer Emotionen unsicher, hat dennoch eine Auswahl:

Verwunderung. Panik. Schock. Verrat, weil ich erneut von einer geliebten Person belogen worden war? (S. 476)

Ich nickte, weil ich noch nicht bereit war, die Worte »Ich verzeihe dir« auszusprechen. […] Es war sein gutes Recht zu schweigen. Er alleine durfte entscheiden, vor wem er sich outete und vor wem nicht. (S. 482)

Zumindest denkt Micah im gesamten Roman ein einziges Mal daran, dass jede Person für sich selbst entscheidet, wem, wann und wie viel sie über sich erzählen möchte. Ich hätte mir aber gewünscht, dass es nicht nur bei dem Gedanken bleibt, dass sie reflektiert und sein zukünftiges Verhalten ändert. Es existiert keine (plotrelevante) Reflexion und keine Charakterentwicklung.

Eine Charakterentwicklung hilft nicht nur dem Plot, sondern auch den Nebenfiguren

Es gibt Romane, bei dem der Fokus auf dem Plot liegt (plot driven) – zum Beispiel Thriller oder Krimis, bei denen es nicht um die Figur geht. Die Konflikte kommen von außen. Und es gibt solche, bei dem der Fokus auf der Figurenentwicklung liegt (charakter driven) – zum Beispiel Entwicklungsromane, Liebesromane, Young Adult oder New Adult.

Dadurch dass die Protagonistin Micah keine plotrelevanten Fehler hat, werden externe Konflikte benötigt. Diese werde durch das Leid von queeren Personen und BI_PoC geschaffen. Die Wendepunkte (Anglizismus: Plot Points) entstehen durch einschneidene Momente der Nebenfiguren. Die Klimax ist Julians Coming-out. Die Protagonistin hat ihr Ziel erreicht. Die Konflikte der Beziehung lösen sich auf, nachdem sie ihn zu seiner Transition ausgefragt hat – darunter die Frage nach den Genitalien (S. 483ff). Da er einen funktionierenden Penis besitzt, haben sie in der nächsten Szene Sex. Micah bestärkt ihn noch, sich vor seinen Mitbewohnern zu outen. Und das war’s.

Nein, nicht ganz! Damit das Thema Transgender nicht zu kurz und einseitig wird, berichtet Auri (als nicht betroffene Person) von einer anderen trans* Person. Ihre Geschichte ist, ins Koma geprügelt worden zu sein. Und somit bestätigt es sich, dass Queersein mit Leid zu tun hat und queere Menschen ihr erst Glück finden, wenn jemand sie vorurteilsfrei annimmt und liebt.

Julians großes Glück ist Micah. Happy End.

Happy für wen?

Micah und Julian werden höchstwahrscheinlich heiraten. Aber kann man darauf bauen, dass tatsächlich alles gut ist?

Mich hat der Roman mit Verunsicherung zurückgelassen. Micah betont immer wieder, wie sehr sie ihren Bruder vermisst und wie sehr sie ihn liebt. Aber sobald sie Kontakt zu ihm hat, beschimpft sie ihn als egoistisches Arschloch und will ihn (gedanklich) schlagen. Ebenso ambig empfinde ich Micahs Verhalten zu Julian. Sie sagt, dass sie ihn liebt (wobei sie etwas eingeschnappt ist, weil er es nicht sofort erwidert), aber dann ist sie nicht bereit, Julian zu verzeihen. Und ein bisschen später will sie ihn heiraten.

Auch wenn im Nachwort (dass sich für mich ehrlich bestärkend angefühlt hat) das Leid von trans* Personen relativiert wird, liest sich die Geschichte so, als würde das Leben von queeren Menschen oder BI_PoC nur aus Schmerz bestehen. Queere Personen werden geschlagen, ausgeschlossen, hintergangen. Julians Eltern wünschen ihm den Tod, und er hat es versucht, umzusetzen. Das ist sehr, sehr bitter, gerade weil ihm Micah ein paar Kapitel vorher erzählte, dass sie sich gewünscht hatte, ihre Freundin solle den ungeborenen Sohn abtreiben – was Julian im Übrigen gar nicht schlimm fand.

Die Szenen mit den leidenden Nebenfiguren scheinen nur benötigt, um dem Plot Konflikte und mehr Drama zu schaffen. Als Betroffene empfand ich sie sehr unangenehm, sogar triggernd.

Für nicht betroffene Leser*innen Unterhaltungsroman ein guter Einstieg in das Thema Transgender sein. Julian wird von der Protagonistin als cis Mann gelesen, wodurch Vorurteile gegenüber trans* Personen vorgebeugt werden. Man hat 470 Seiten Zeit, sich an Julian zu gewöhnen, bevor die Bombe platzt.

Verwunderung. Panik. Schock.

Dadurch dass die Protagonistin diese menschlichen Gefühle hat, schämt man sich auch nicht dafür, schockiert zu sein, weil Julian trans* ist. Man kann sich mit der Ich-Perspektive an das Thema herantasten.

Es ist in Ordnung, wenn ein Außenstehender darüber neugierig ist und Fragen hat, das ist ziemlich menschlich. Aber es ist nicht dieses »Transgender’s Job«, den Außenstehenden zu unterrichten. Viele Transgender tun es trotzdem, weil sie sich für ihre Community engagieren und anderen Transgendern helfen wollen, es einfacher im Leben zu haben als sie selbst – indem sie die Ignoranz der Allgemeinheit Stück für Stück abbauen.

Das ist freiwillig. Und auch dann ist das Löchern mit persönlichen Fragen abzuraten, außer die Transgender-Person gibt das Okay für persönliche Frage.In-Genius zu »Someone New«

Es kommt mir vor, als würde die Romanfigur stellvertretend für trans* Personen die Fragen für die Außenstehenden beantworten. Ob es gut oder schlecht ist, kann ich als Außenstehende nicht beantworten. Ich hoffe aber, dass durch diese Szene und Micah Verhalten im Generellen es nicht als Selbstverständlichkeit angesehen wird, Angehörigen aus marginalisierten Gruppen jederzeit intime Fragen stellen zu dürfen. Nun gut, dürfen schon, aber bitte verlangt nicht, immer eine (geduldige) Antworte zu bekommen. Bitte akzeptiert es, dass die Frage nach dem Genital (oder der Herkunft) für manche Menschen privat ist.

Die Lösung für den Roman?

Eine Protagonistin mit Charakterentwicklung würde die Last von den Schultern der Nebenfiguren nehmen. Die Nebenfiguren müssten nicht leiden, damit der Plot vorangetrieben wird. Die Szenen, in denen die Protagonistin übergriffig ist, würden abgemildert.

Mit selbstständigem Plot und eigenen Zielen würden die Nebenfiguren nicht nur im Roman existieren, um für Drama zu sorgen oder von Micah gerettet zu werden. Wenn sie Menschen wären, die zufällig einer marginalisierten Gruppe angehören, anstatt Stereotype, würde die Protagonistin auch weniger eine White Savior sein.

Die Nebenfiguren wären weniger stereotyp, wenn sie ihre eigene Lebenswelt in den Roman einbrächten. Dadurch dass sie bei der Einführung ihrer Figur das Label »Marginalisiert« aufgedrückt bekommen und es in tieferer Textebene nicht zu spüren ist, wirkt der Roman so, als sollte nur eine Quote erfüllt werden.

Das finde ich wirklich sehr schade, denn man merkt trotz den von mir kritisierten Punkten, dass sich die Autorin bemüht hat.

Von meiner Seite aus ist es kein »Lasst solche Themen sein«, sondern ein »Bitte macht es besser«.


Vielen Dank an @NoraBendzko, mit der ich mich über die Szene mit der Diskussion über People of Color austauschen durfte. Danke an @whatawrite, der mich darauf aufmerksam gemacht hat, dass Rassismus auf Interracial Sex beschränkt ist. Danke an Rachel, die bestätigt hat, dass einige Szenen Triggerpotenzial haben. Und ein großes Dankschön an weltatlas und @InGenius11, die all meine Argumentationen geprüft haben.

Bitte lest die Rezension von Kat: Repräsentation, Laura Kneidls “Someone New” & ein übergreifendes Problem, die ihr Augenmerk auf die Problematik hinsichtlich Queermisia richtet.

1 Kommentar

  1. Anna 19. März 2019

    Whoa. Danke für diese ausführliche Rezension. Jetzt kann ich die Rezensionen anderer Menschen besser einordnen – gerade die, die mir auch beim Lesen (von Rezensionen! Eines Buches, das mich zunächst interessiert hat!) irgendwie schlechte Laune gemacht haben.
    Ich lasse das Buch dann mal weit weg von meinem SuB und merke mir diese Rezension für jegliche Fragen nach dem Warum.
    Danke!

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