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Wie man Figuren mit Tiefe baut

Sicherlich habt ihr schon einmal einen Charakterbogen in der Hand gehabt, in den ihr eintragen könnt, wie groß eure Figur ist, welche Haarfarbe sie hat, was ihre Leibspeise ist, ob sie Überstunden machen muss, wie hoch ihre Willenskraft oder ihre Logik ist, und wohin sie reisen würde, wenn sie sich zwischen Berge und See entscheiden müsste. Dies zu wissen, ist ein Schritt, um eine dreidimensionale Figur zu erschaffen. Doch darüber hinaus ist es wichtiger, die Eigenschaften logisch miteinander zu verknüpfen – denn nichts entsteht willkürlich.

Im Schreibimpuls Ziele wurden Ziele, Motivation und Bedürfnisse angesprochen. Nun gehen wir einen Schritt weiter, und überlegen uns, woher die Eigenschaften kommen. Dafür betrachten wir die Charakterentwicklung (character arc) von Schwäche über die Erkenntnis bis zur Stärke, mit der die Figur ihr Ziel erreicht.

Mit Schwächen sind Eigenschaften gemeint, die negative Auswirkungen auf den Plot haben. Auch wenn diese  Charaktereigenschaften von der Gesellschaft positiv konnotiert sind, hindern sie die Hauptfigur dabei, das Ziel zu erreichen. Die Figur stellt sich selbst ein Bein.

Diese Schwächen kommen nicht von irgendwoher. Jede Figur hat etwas erlebt, was sie prägt. Das ist ihr Trauma.

Gerd-Uwe hat auf einer hektischen Buchmesse seinem Traumverlag das Manuskript angeboten – das ungelesen im Schredder landete. Nach diesem Ereignis löscht er alle seine Texte, damit niemand sie lesen und verreißen kann.

Da die Figur Angst hat, erneut verletzt zu werden, baut sie sich eine Schutzmauer um sich herum und meidet bewusst oder unbewusst Situationen, in der sie erneut verletzt werden kann. Es sind Lügen, die die Figur oft auch selbst glaubt. Und diese Lügen bedingen (wie die Traumata) die Schwächen. Und so schließt sich der Kreis.

Heute zählt Gerd-Uwe sein Geschreibsel zu den Jugendsünden. Es seien naive Fiktionen, die selbst er belächle. Er blickt auf Schreiberlinge herab, die sich dem Hintern ihren Blättersammlungen platt sitzen. Auch Muzisierende und andere Verfechter der brotlosen Kunst verachtet er. Lieber geht er den körperlich anspruchsvollen Beruf des Kläranlagentauchers[1] nach. Seine Leidenschaft zum Schreiben hat er erfolgreich vergraben.

So kann es sein, dass die Figur durch die Schwächen und Lügen ihre wahren Bedürfnisse nicht erkennt und einem falschen Ziel hinterherjagt. Im Roman wird es Punkte geben, wo der Figur schmerzlich bewusst wird, dass es nicht so weitergehen kann.

Gerd-Uwes Tochter will Tänzerin werden, fällt aber durch die Aufnahmeprüfung der Akademie. Es kommt zum Streit, weil Liselotte ihren Traum verfolgen will, Gerd-Uwe sie jedoch zwingt, einen vernünftigen Beruf zu suchen. Er beschimpft Tanzende als nutzlose Wesen, deren Existenz allein daraus bestehe, staatliche Subventionen abzugreifen. Mit so jemandem wolle er nicht unter einem Dach leben. Daraufhin sagt Liselotte ihm Lebewohl und zieht zu ihrem Freund.

Die Figur gelangt zu der Erkenntnis, dass sie ihre Bedürfnisse (verstehen und) annehmen muss. Nur so kann sie den bisherigen Kreislauf aus Ängsten und Lügen durchbrechen, Schwächen überwinden und schließlich ihre Stärken entfalten,  womit sie die Konflikte lösen und ans Ziel gelangen kann.

In seiner Einsamkeit beginnt Gerd-Uwe nachzudenken und seine eigene Haltung zu hinterfragen. Ihm wird bewusst, dass er sich falsche Prinzipien auferlegt hat. Nun muss er seine Schwächen überwinden, um sich mit Liselotte zu vertragen, und seine Stärke finden, um sein eigenes Ziel erreichen zu können.

Die Entwicklung der Figur verleiht ihr Tiefe und Lebensnähe. Er lässt uns mit der Figur mitfühlen und gibt uns ein Gefühl der Verbundenheit, weil wir nicht nur sehr viel über die Figur wissen, sondern ihre Handlungsweisen nachvollziehen, uns vielleicht sogar in ihnen wiederfinden können.

 

Neben der oben erläuterten Charakterentwicklungen gibt es noch einige mehr; hier eine Auswahl:

  • Der Held hat kein Trauma oder sein Trauma bereits aufgearbeitet, seine Stärken erfährt er sehr früh in der Geschichte. Er kämpft nicht gegen seinen inneren Dämonen und weniger für sich selbst, sondern gegen die Antagonisten und für die Welt.
  • Der Resignierte kommt bis zu dem Punkt der Erkenntnis. Doch diese zeigt ihm, wie hoffnungslos die Situation bzw. das Leben ist. Er entwickelt keine Stärke, sondern er gibt auf.
  • Der Leugner verleugnet seine wahren Bedürfnisse – vielleicht kommen sie nicht einmal zum Vorschein. Er erlebt im Laufe des Plot immer mehr Dinge, die seine Lügen untermauern. So glaubt er am Ende, dass die Lüge seine Wahrheit ist. Er verstrickt sich immer mehr darin, bis er zugrunde geht.

[1]Gut bezahlter Job.

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