Das große Herzensprojekt.
Die meisten von uns haben eine Geschichte, die uns mehr als alle anderen beschäftigt. Oft ist es das erste Projekt, das Projekt, mit dem wir (schreiberisch) aufgewachsen sind und das uns auf dem steinigen Weg zum Autor begleitet hat. Doch leider sind es genau diese Projekte, die uns am meisten verzweifeln lassen. Wir stecken fest zwischen Überarbeitungen und alten Szenen und schaffen es nicht, unsere Geschichte wie einen Heißluftballon in die Lüfte steigen zu lassen. Denn weil schon so viel Herzblut in die Geschichte hineingeflossen ist, fällt es uns schwer, den liebgewonnenen Ballast wegzuwerfen, der uns am Boden hält. Aber wie können wir es schaffen, unser Herzensprojekt trotzdem zu beenden?
[spacer height=“20px“]Tipp 1: Abstand gewinnen
Setzt euch hin und überlegt, wie lange ihr schon an eurem Herzensprojekt arbeitet. Schreibt die Zahl auf einen Post-it und klebt ihn an den Bildschirm. Bei mir sind es 15 Jahre, fast 5.500 Tage. Mein halbes Leben.
Klar fühlt man sich mit diesem Projekt besonders verbunden. Es hat so viel mitgemacht, hat einem Kraft und Motivation gegeben und vielleicht über schwere Zeiten hinweggeholfen. Aber genau diese Verbundenheit macht es kompliziert, sich kritisch mit der Geschichte auseinanderzusetzen.
Wie soll ich eine Szene streichen, an der so viele Erinnerungen hängen? Wie soll ich eine Figur verändern, die mich immer dann zum Lachen gebracht hat, als es mir nicht gut ging?
Ich habe auch so eine Figur. Sie schlich sich in mein Leben, als ich zwölf Jahre alt war, und hat mich seitdem begleitet. Sie war mutig, eine Rebellin, und entführte mich immer dann in ihre phantastische Welt, wenn mir die Realität über den Kopf zu wachsen drohte.
Auch heute noch ist ein großer Teil der Handlung mit meinen Erinnerungen verknüpft und weigert sich standhaft dagegen, sich von mir verändern zu lassen. Ich habe die Details einfach zu sehr vor Augen, um einen Blick nach links oder rechts zu werfen und einen neuen, vielleicht besseren Weg einzuschlagen.
Deshalb lautet der erste Tipp für euch: Gewinnt Abstand. Fangt einen neuen Roman an, vielleicht sogar in einem anderen Genre. Schreibt Kurzgeschichten. Lasst euer Herzensprojekt in der Schublade. Je länger ihr pausiert, desto eher könnt ihr beurteilen, inwieweit eure Emotionen euch davon abhalten, wichtige Verbesserungen an eurem Projekt zu machen.
[spacer height=“20px“]Tipp 2: Handlung oder Figur?
Viele erste Romane entstehen aus dem Bauch heraus. Kaum jemand, der sich zum ersten Mal an einer Geschichte versucht, kennt bereits die Feinheiten der verschiedenen Plotstrukturen oder hat eine genaue Vorstellung davon, wie man eine funktionierende Geschichte entwirft. Wir machen das intuitiv und lernen aus der eigenen Erfahrung.
Meine Probleme begannen, als ich den ersten Entwurf fertig hatte. Inzwischen kannte ich einige Tricks aus der schriftstellerischen Handwerkskiste und merkte, wie viel meinem Roman noch an Struktur fehlte, an einem durchgängigen roten Faden. Meine Hauptfigur hatte zwar ihre Charakterentwicklung und einen Plan für ihre Reise, doch beide Dinge verliefen unabhängig voneinander und wollten nicht ganz zusammenfinden. Ich versuchte, die kritischen Szenen umzuschreiben, meiner Figur ein paar zusätzliche Charaktereigenschaften zu geben, damit ihre Veränderungen schlüssig wurden. Doch immer wieder stieß ich an Grenzen, weil ich meiner Geschichte keine komplett neue Richtung geben wollte.
Irgendwann traf ich eine radikale Entscheidung: Ich strich die komplette Handlung und konzentrierte mich ausschließlich auf meine Figur. Was wollte sie? Warum konnte sie es nicht haben? Welche Reise muss sie durchlaufen, um am Ende dorthin zu gelangen, wo ich sie haben wollte?
Diese (zumindest emotionale) Lösung von der ursprünglichen Handlung gab mir die Chance, die Geschichte noch einmal neu zu entwickeln – und auf meine Heldin abzustimmen, die sich mit mir in den 15 Jahren weiterentwickelt hat. Und auch wenn sich nach und nach viele Teile der ursprünglichen Handlung wie von selbst in die Geschichte woben, hat mir die Trennung viele neue Ideen gebracht, die ich ansonsten verworfen hätte.
Daher der zweite Tipp: Entscheidet euch für einen Teil eurer Geschichte – Handlung oder Figur – und ignoriert das andere. Wenn ihr euch auf eure Figur konzentriert, überlegt euch, was für eine Geschichte sie benötigt, um so zu wachsen, wie sie es tun soll. Wenn ihr euch auf die Handlung konzentriert, denkt darüber nach, was für eine Figur notwendig ist, um an dieser Handlung zu wachsen und sich zu entwickeln. Oft tun sich da neue Möglichkeiten auf, auf die ihr sonst nicht gekommen wärt.
[spacer height=“20px“]Tipp 3: Alles auf Anfang
Das ist wohl der radikalste Tipp von allen, aber vermutlich auch der effektivste: Lösche alles, was du bisher hast, und beginne die Geschichte noch einmal komplett von vorne.
Wie bitte, 15 Jahre Arbeit umsonst?
Nein, darum geht es nicht. Es geht vielmehr darum, sich auf den Kern eurer Geschichte zu konzentrieren – das, was sie zu eurem Herzensprojekt macht. Ist es die Idee, die euch nicht mehr loslässt, ist es eine der Figuren? Geht dem Kern eurer Geschichte auf den Grund und konzentriert euch auf das, was euch all die Zeit über am Ball gehalten hat.
Bei mir ist das erstaunlicherweise eine der Nebenfiguren gewesen – auch nach all der Zeit berühren mich ihre tragische Liebesgeschichte und das Schicksal, dem sie nicht entrinnen kann. Sie aus ihrem Unglück zu befreien, das war es, was mir am Herzen lag. Und genau aus diesem Grund erzähle ich nun ihre Geschichte, weil ich weiß, dass – wenn ich sie so erzähle – auch meine Leser davon berührt werden.
Probiert es aus!
Was ist der Kern eures Projekts? Und was ist nur Ballast, den ihr abwerfen könnt, damit euer Projekt doch noch in die Lüfte steigen kann?
[spacer height=“20px“]Fazit
Gerade, wenn ihr schon sehr lange an euren Herzensprojekten sitzt, lohnt es sich, eure Geschichte aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Und auch wenn die drei Methoden ziemlich radikal wirken, sind sie es doch am Ende nicht. Denn die wichtigsten Ideen fügen sich automatisch wieder wie Puzzleteile in eure Geschichte ein und machen sie zu dem, was euch so am Herzen liegt. Aber diese drei Methoden geben euch die Möglichkeit, falsche oder unpassende Puzzleteile zu entdecken und auszusortieren, damit sie euch nicht mehr bei der Arbeit an eurem Projekt behindern.
Und noch etwas lernt ihr dabei: loszulassen.
Denn sein wir mal ehrlich, kaum etwas macht uns Autoren mehr Angst, als eine Geschichte in die Welt hinauszuschicken – auch wenn wir eigentlich nichts mehr an ihr verbessern können.
Also traut euch, probiert es aus! Was habt ihr zu verlieren?