In dem letzten Kompasskurs haben wir erfahren, wie wichtig die Entwicklung ist. In manchen Geschichten ist die Entwicklung in der Handlung (plot driven) stärker, in anderen die Charakterentwicklung (character driven). Eine actionreiche Handlung reißt die Leser*innen mit, aber erst die Hauptfigur macht die Geschichte individuell.
Die Hauptfigur ist die Verbindung zwischen Leser*innen und der Geschichte. Wir begleiten die Figur durch die schönsten und dunkelsten Stunden, beobachten sie beim Essen, beim Schlafen, beim Küssen oder beim Streiten. Wir dürfen sogar in ihren Kopf schauen und die intimsten Gedanken erfahren. Eine gute Hauptfigur zieht die Leser*innen in die Geschichte hinein.
Deine Figur braucht ein Ziel und etwas, das sie antreibt
Damit sie es tun kann, braucht sie ein konkretes Ziel. Auf dieses Ziel läuft die Geschichte hinaus. Für die Spannung – damit die Figur das Ziel nicht zu schnell erreicht – spicken wir ihren Weg mit Konflikten. Doch dies reicht immer noch nicht. Der Leser will verstehen, weshalb die Figur das Ziel erreichen will, weshalb sie trotz der Konflikte niemals aufgibt. Dieser Grund, der Antrieb, ist die Motivation.
Vielleicht kennt ihr es aus dem wahren Leben. Es gibt Menschen, die ihr einfach nicht versteht und bei denen ihr euch fragt: »Was zum Teufel geht in dessen Hirn ab?« Mit solchen Personen kann man sich eher weniger anfreunden. Es fehlt uns das Verständnis. Doch wie ist es, wenn dieser Mensch euch offenbart, er euch seine Vergangenheit, Denkweise und Wünsche erzählt?
Beispiel
CN Erwähnung von Gewalt und DrogenIhr müsst es keineswegs gut finden, dass ein Mensch jemanden krankenhausreif prügelt, weil dieser seinem kleinen Bruder Rauschgift verkauft hat. Doch vielleicht könnt ihr seine Ängste um den Bruder nachvollziehen, vor allem wenn die Mutter abhängig von Tabletten ist.
So ist es auch mit der Romanfigur. Wenn die Figur seltsame Dinge macht – noch schlimmer: wenn sich diese Dinge auch noch widersprechen, hat man keine Lust, ihn bei seiner Geschichte zu begleiten. Nicht falsch verstehen: Die Leser*innen müssen die Figur nicht lieben oder anhimmeln, sie muss aber die Handlungen und die Gedanken nachvollziehen können, sie müssen die Figur auf gewisse Weise interessant finden.
Warum ist die Figur, wie sie ist?
Ihr habt der Figur einen Rahmen gegeben: Ziel, Konflikt, Motivation. Was will die Figur, was steht ihr im Weg, weshalb will sie die Hindernisse aus dem Weg zu räumen? Die Figur funktioniert in dem Plot. Doch sie soll nicht nur funktionieren, sie soll leben.
Es reicht aber nicht – wie es in manchen Schreibtipps heißt – den Figuren eine Macke zu geben, um sie individueller zu gestalten. Macken oder besondere Eigenschaften allein ergeben noch keine runde Figur. Der Charakter einer Figur formt sich aus ihrem Wesen an sich und der Erziehung und den Erfahrungen, die sie gemacht hat. Wichtig ist es zu verstehen, woher diese Charaktereigenschaften kommen.
Beispiel
CN ErstechenNora ist eine Frau Ende dreißig. Wenn Nora Party macht, dann bis in die Puppen. Im Winter arbeitet sie nur halbtags. Ihr Haus hat sie so programmiert, dass die Lampen angehen, bevor sie das Grundstück betritt. Wenn sie schläft, dann nur mit Sternchen-Nachtlicht.
Noras Macke ist das Nachtlicht, doch was steckt dahinter?
Die Figur Nora ist unsere Millionärin aus dem letzten Teil, deren Freund in der Dunkelheit abgestochen wurde. Neben dem Schuldgefühl hat sie extreme Angst vor der Finsternis. Lieber spielt sie das Partygirl und geht erst bei Sonnenaufgang nach Hause, als dass sie nach Einbruch der Dunkelheit vor die Tür muss.
»Figurentiefe entsteht erst,
wenn man dem Ziel, dem Konflikt und der Motivation
eine Kausalität gibt.«
Eure Aufgabe ist es, diese Zusammenhänge zu erschaffen. Ihr müsst eure Figuren von tief innen bis zur äußeren Schicht kennenlernen. Dieses Kennenlernen ist ein Prozess.
Wo anfangen?
Ihr könnt euch erst mal ein Bild von eurer Hauptfigur machen. Wie sieht sie aus, was mag sie gern, wie lebt sie ihr Leben? Achtet dennoch darauf, dass ihr eurer Figur konkrete und individuelle Eigenschaften gebt.
Junge Frau, 22 Jahre, 1,72 m, schlank, dunkelblonde Haare, braune Augen … Auf wie viele junge Frauen trifft die Beschreibung zu? Genau, viele.
Besser: Gestresste Bachelor-Studentin im 7. Semester. Schlank durch Gummibärchen und Cashewkerne. Zerzauster Dutt (scheinbare Dauer: 3 Minuten, reale Dauer: 3 Stunden). Braune Augen hinter einer stylischen Hornbrille. Turnbeutel mit der Aufschrift »Aus dem Weg, ich muss tanzen!«.
Okay, okay … es gibt immer noch genug Leute, die so aussehen. Dennoch ist die Figur leichter zu erfassen.
Wenn ihr Pantser seid, könnt ihr euch mit der Figur warmschreiben. Wo würde sie euch zum ersten Mal begegnen? Wie sieht sie aus? Wie wirkt sie mit ihrer Haltung, Sprechweise und den Interaktionen mit ihren Mitmenschen? Wenn ihr sie ansprecht, wie reagiert sie?
Es gibt viele Ideen, wie ihr euren Figuren näherkommen könnt. In den Schreibimpulsen oder bei den Spielereien findet ihr:
- Triff dich mit deinem Protagonisten
- Charakterinterview
- Was würde dein Charakter tun, wenn …
- Wie sieht die Grabinschrift deiner Figur aus?
- Was hat die Figur in ihren Taschen? (Dasselbe kann man auch mit der Nachttischschublade, dem Kühlschrank oder dem Musikplayer machen)
In dem Kennlernprozess werdet ihr Überraschungen erleben. Vielleicht ist die Figur doch anders, als ihr sie geplant habt; vielleicht weiht sie euch in ein Geheimnis ein, von dem ihr nie geahnt hättet.
Es ist nicht schlimm, wenn dadurch etwas im Plot angepasst werden muss. Es ist nicht schlimm, wenn ihr der Figur einige Charakterzüge dazugebt, damit sie wieder auf den richtigen Weg des Plots kommt. Manchmal weigert sich die Figur und macht euch das Leben schwer. Aber auch das ist nicht schlimm. Freut euch lieber, dass sie ihren eigenen Kopf hat. Es bedeutet bloß, dass sie lebt.
Wenn ihr Plotter seid, könnt ihr strukturierter an die Figurenentwicklung gehen. In dem Artikel »Wie man Figuren mit Tiefe baut« beschäftigen wir uns mit den Wünschen und Bedürfnissen, mit Traumata und Selbstlügen und wie das alles mit dem Plot zusammenhängt.
Ansonsten geht es weiter zum Kompasskurs IV – Die Welt!